SOFIA: Die Walküre

Bizarre Science-Fiction-Wesen und Helikopter-Kämpfer verfolgen Siegmund in gnadenloser Treibjagd. Lackierte Stachelkostüme aus Gummi, Schläuchen, Flügeln und Panzern leuchten plakativ bunt und surreal. Silberweiße Walküren scheinen mit Raketensprengköpfen als Streitwagen über die Bühne zu fliegen und machen mit ihrem Ritt La Fura dels Baus in Valencia Konkurrenz. Die überbordende Fantasie, mit der sich die Nationaloper in Sofia nach einem neugierig machenden »Rheingold« im Vorjahr (OG 7-8/2010) nun an die Fortführung des eigenen »Ring«-Projektes mit der »Walküre« wagt, ist in ihrer unbelasteten Unschuld und ambitionierten Freude entwaffnend, mitreißend und einfallsreich.

 

Plamen Kartaloff, während seiner Direktion intensiv darum bemüht, den gängigen Spielplan in der bulgarischen Hauptstadt auszubauen mit großer italienischer Oper und mit der in Bulgarien fast unbekannten deutschen Romantik, projiziert Wagners Sagenstoff in eine ewig gültige Zeitlosigkeit zwischen mystischer Weltparabel und schriller Fantasy-Action der Anime- und Manga-Ästhetik. Dabei geht ihm der Bühnenbildner und Kostümdesigner Nikolay Panayotov kongenial zur Hand und fährt alles auf, was Ausstattung und Technik des Hauses zu stemmen vermögen. Zwischen die markanten Bühnenelemente des »Rheingolds« – die riesigen Walhall-Macht-Kegel und die hier nun geteilte, mit einer Hälfte hoch gekippte Ringspielfläche – hat Kartaloff eine erhöhte Zeitschiene gesetzt, eine Straße der Rückblenden und Entscheidungen, auf der die erzählenden Leitmotive in rot schummrigem Licht von Statisten nachgestellt werden. Das ist oft effektvoll, für „Newcomer“ hilfreich, manchmal vom eigentlichen Geschehen ablenkend und gelegentlich unfreiwillig persiflierend, wenn die vorbeifahrende Szenerie in ihrer Theatralik an das Ambiente von Abenteuerbahnen in Vergnügungsparks erinnert.

 

Nachholbedarf besteht hingegen in der Inszenierung der psychologischen Verstrickungen, im Aufbau von knisternden zwischenmenschlichen Spannungen. So fungieren im Machtkampf der Ehekrisen die scharf anklagende Fricka der Rumyana Petrova und der Hunding des sonor deklamierenden Angel Hristov lediglich als dekorative Stichwortgeber. Und vor allem das Wälsungenblut verharrt in allzu bravem Edelmut, mag einfach nicht in Wallungen kommen, obwohl das Sofioter Geschwisterpaar attraktives Heldenpotenzial besitzt und stimmlich prägnante Charakterkonturen vermittelt. Das Timbre des jungen Martin Iliev klingt kraftvoll nach Verismo-Bariton und fährt dennoch mühe- und bruchlos in eine frei schwingende Tenorhöhe. Ein dynamisch flexibel abgestuftes Parlando prägt die Artikulation, Siegmunds Wälse- und Nothung-Rufe strömen erdig und bodenständig. Mit mädchenhafter Frische und kerniger Wärme zeichnet Tsvetana Bandalovska eine mutig aktive Sieglinde. In der tiefen Lage der „Männer Sippe“ bleibt ihre Stimme zu klein, den Albtraum jedoch gestaltet sie dicht attackierend, das „hehrste Wunder“ legt sich mit leuchtender Seele über die Orchesterwogen. Diesem Zwillingspaar hätte der Mut zu mehr Körperlichkeit und ekstatischem Gefühlsüberschwang sicherlich gut gestanden, und der Gesamtspannung der Produktion hätte dies ebenfalls gut getan.

Mariana Zvetkova singt eine höhen wie tiefensichere und stets weich intonierende Brünnhilde, doch erst wenn sie im 3. Akt Pferd Grane, einen horizontal gesenkten Kegel von Walhalls Zinnen, verlassen darf, läuft sie zu persönlichkeitsstarker Hochform auf, zeichnet ein immer farbiger werdendes Charakterporträt mit natürlich schlichter Körpersprache und stimmlicher Differenzierung. Auf fast leerer Bühne umkreisen sich im Vater-Tochter-Dialog zwei Gottheiten, deren Kontakte zur Menschenwelt sowohl großartige Visionen freisetzen als auch die Tore öffnen zu eigener Verwundbarkeit – hier hat sich die Regie getraut, einfache Bilder tiefster Seelendramen mit anrührenden Emotionen zu füllen. Und als Wotan hat Nikolay Petrov nicht erst im Schlussbild seinen ganz großen Auftritt: ein Charakterschädel mit untrüglich sicherem Bühneninstinkt, ein charismatisches Unikat mit schlankem McIntyre-Timbre und ein Urgestein mit konditionsstarkem Feingefühl für Größenwahn, Trauer und Tragik – zu Recht belohnt mit dem stärksten Applaus des Abends.

 

Unter der konzentrierten Leitung von Pavel Baleff wird das Orchester zu engagiert durchdachtem Spiel inspiriert und ist bereit, bis an die Grenzen des technisch Machbaren zu gehen. Die klare, angenehme Akustik des Hauses unterstützt vor allem die fulminanten Tableaus, die in repräsentativer Großartigkeit zelebriert werden, doch auch in intimeren Kammerspielszenen weben sich schöne Instrumentalsoli umeinander, die die Spannung halten. Auffallend im Zusammenspiel ist das tragend reagierende Atmen mit dem ausschließlich aus Bulgarien stammenden Sängerensemble, das sich mit Sprach- und Phrasierungs­coach Richard Trimborn mit dem sperrigen Deutsch des Librettos erfolgreich auseinander gesetzt hat. Bereits jetzt läuft das Deutschtraining für den »Siegfried«, und das Team um Plamen Kartaloff fiebert dem Jahr 2012 entgegen, wenn die Nationaloper in Sofia den »Ring« weiterschmiedet.

Brigitte Kempen

Das Opernglas, 6/Juni 2011

 

 

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