Wohl kein Ort zur Aufführung einer Oper bzw. Veranstaltung eines Opernfestivals ist dem Intendanten der Sofia Oper und Ballett, Acad. Plamen Kartaloff, exotisch genug, um es nicht einmal damit zu versuchen – und er hat dabei stets Erfolg! Nach open air Aufführungen im Schatten der kuppelvergoldeten St. Alexander Nevsky Kathedrale und einem Sommerfestival „Oper im Park“ in Sofia, sowie einer Aufführung seines „Ring des Nibelungen“ 2015 im Festspielhaus Füssen, entdeckte der fantasievolle und umtriebige Opernmann im letzten Jahr die mystische Gegend um die Kleinstadt Belogradchik etwa 180 km nordwestlich von Sofia. Nicht weit von hier bildet die breite und träg dahin fließende Donau die Grenze mit Rumänien. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine abgelegene Gegend, dieser Nordwestzipfel Bulgariens. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine abgelegene Gegend, dieser Nordwestzipfel Bulgariens. Belogradchik wird von den sog. Belogradchik Peaks überragt, turmartigen Felsformationen, die sich hier seit dem Perm vor ungefähr 230 Millionen Jahren herausbildeten. In der Nähe befinden sich auch einige große Höhlensysteme, darunter die riesige Magura-Höhle mit einer Ausdehnung von 133,5 ha und einer bisher erschlossenen Gesamtlänge von 2.600 Metern bei zehn unterschiedlich großen Sälen von bis zu 50 m Breite und 20 m Höhe. Die Höhle hat sich durch einen unterirdischen Flusslauf infolge einer tektonischen Verschiebung gebildet und ist wegen der Vielzahl ihrer ausdrucksvollen Wandmalereien von etwa 8.000 – 600 v. Chr. eine bedeutende Touristenattraktion.
Sie nun zu einer Attraktion für die Liebhaber des Wagnerschen Oeuvres zu machen konnte wohl nur Plamen Kartaloff einfallen. Wagner open air kombiniert mit underground – wann und wo hat es das schon mal gegeben?! Er nennt den Event „Wagner Magura – Götter, Riesen, Zwerge und Walküren – Höhlenfestivalaufführung in drei Teilen“. Bei 35 Grad C im Schatten werden mitten im Gebüsch die Karten für nur 60 Besucher entwertet, die auf simplen Plastikstühlen vor dem Höhleneingang Platz nehmen. Mehr dürfen aus Erhaltungsgründen nicht hinein, also auch kein Orchester – die Musik kommt aus Lautsprechern. Maestro Kartaloff gibt noch eine Einführung in das auch von ihm inszenierte „Werk“ und dann geht es los: „Das Rheingold“ 2. Bild. Wotan kommt mit Fricka und Freia in den Kostümen (Nikolay Panayotov) des Sofioter „Ring“ (hier bereits mehrmals besprochen) aus dem Nichts hervor und begrüßt den Berg über der Höhle als sein erwünschtes Walhall. Schon treten die Riesen auf den Plan und fordern ihren Sold. Als nichts weiter geht, taucht Loge auf und empfiehlt bekanntlich das Rheingold Alberichs als Alternative zu Freia. Bis dahin schön und gut wie bekannt.
Beim „So schwingen wir uns durch die Schwefelkluft? Dort schlüpfe mit mir hinein!“ steigen Wotan und Loge in die Höhle hinab und alle Zuschauer hinterher. Zu den Tönen der Verwandlungsmusik zwischen dem 2. und 3. Bild, also dem akustischen Abstieg nach Nibelheim, geht es nun optisch und tonal unglaublich authentisch hinab in die großen Säle der Höhle. Gespenstische Beleuchtung. In einem Seitentrakt hämmern einige Nibelungen unablässig das geschürfte Gold. Man meint tatsächlich in Nibelheim zu sein. Allerdings: Wotan und Loge sind verschwunden. Das hat einen Grund: Die Zuschauer werden erst mal in einen speziellen Saal geführt, um die hier besonders zahlreich und dicht aneinander liegenden Wandmalereien zu bewundern. Etwas Tourismus soll ja sein, obwohl zu diesen mythischen Blickfängen immerhin das mystische „Parsifal“-Vorspiel erklingt. Es passt also auch hier der Titel.
Dann aber wird es wirklich Wagnerisch. Wir erleben in einer sehr großen Kaverne unter einem rötlich erleuchteten Felsvorsprung fast das ganze 3. Bild des „Rheingold“, also wie Mime den Tarnhelm hämmert, dieser ihm von Alberich entrissen wird, Wotan und Loge von oben herab steigen und sich mit Alberich einlassen, der nach seinen zwei Verwandlungsversuchen als Kröte gefesselt wird. Intensive Szenen zur „Rheingold“-Musik, die offenbar alle Besucher fesseln. „Das Rheingold“ mit größter Authentizität und Intensität!
Es geht weiter über viele Treppen und enge Gänge, vorbei an Stalagmiten und Stalagtiten, zur langsam erklingenden „Tannhäuser“-Ouvertüre, bis man in einem besonders weit ausladenden und hohen Saal oben ein Geländer erspäht, an dem nun Venus mit großer Emphase das Verlassen ihres Geliebten Tannhäuser im 1. Akt besingt. Kurz darauf erscheint er selbst und singt die Strophen seiner Lossagung bis zu „Mein Heil liegt in Maria!“ Auch diese Szene ist große Oper – im Innern des Venusbergs eben, wie Wagner es wohl erdacht haben mag… Spätestens hier ist zu bemerken, dass die Höhle für die Stimmen eine sehr gute Akustik aufweist. Selbst auf große Distanz kann das Publikum unten auf der gegenüber liegenden Seite viel vom Gesang verstehen. Anders ist es mit der Musik aus den Lautsprechern. Sie klingt bei weitem zu dumpf und intransparent. Hieran müsste man im kommenden Jahr noch arbeiten.
Und was wäre der „Tannhäuser“ ohne den Pilgerchor? Mit kräftigen Stimmen macht dieser sich nun durch die Zuschauerreihen auf den Weg nach Rom – noch direkter ist die stimmliche und dramaturgische Intensität dieses Chores wohl kaum zu erleben. Die Zuschauer wandern hinterher und vernehmen bereits auf dem Weg die Musik aus dem 2. Akt zum „Einzug der Gäste“. Ein großer Saal tut sich vor ihnen auf, und hoch oben auf einem aufsteigenden Weg steht der Damen- und Herrenchor, inbrünstig den Einzug der Gäste singend, sodass der ganze Saal zu einem fantastischen Klangraum mutiert! Das ist der Abschluss zum „unterirdischen“ Wagner in des Wortes völlig konträrer Bedeutung. Alle bewegen sich nun langsam hinauf in das grelle Sonnenlicht am Hinterausgang der Höhle. Dieser gewährt einen großartigen Blick auf den Rabisha See, den größten tektonischen See Bulgariens.
Das ist aber noch keineswegs das Ende der Fantasie von Plamen Kartaloff! Nun erleben wir mit den Göttern das „Rheingold“-Finale als dritten Teil der Show, natürlich ohne das störende Gejammer der Rheintöchter aus des Wassers Tiefe. Stattdessen serviert Loge von einem großen Fass aus den Göttern eine Flasche Sekt aus der Produktion der größten Weinkellerei der Region. Der Winzer ist selbst zugegen. Damit es dem Publikum bei der Verkostung der Weine nicht zu langweilig wird, rollen sodann noch die acht „Walküren“ aus dem Sofioter „Ring“ auf batteriegetriebenen Rollern heran und geben den kompletten Walkürenritt. Es ist das begeisternde Ende eines ungewöhnlichen Wagner-Erlebnisses, das seinesgleichen sichern suchen muss – und wohl nicht finden wird. In die schon seit über 10.000 Jahren in Form der Wandmalereien mit der bildenden Kunst in Kontakt gekommene Magura-Höhle hält nun die „erst“ etwa 400 Jahre alte Oper als Ausdruck der schönen Künste mit Schauspiel, Gesang und Musik Einzug. Das macht sie zum Schauplatz eines Gesamtkunstwerkes im Sinne Richard Wagners, wenn auch mit einer etwas anderen Facettierung.
Der Vollständigkeit halber sollen am Schluss noch die Ausführenden genannt sein. Vorweg sei gesagt, dass alle Sänger und Sängerinnen aus dem mittlerweile beachtlichen Wagner-Ensemble der Sofia Oper und Ballett stammen und auch im „Ring des Nibelungen“ tätig waren. Im „Rheingold“ agierten: Nikolay Petrov als Wotan; Nikolay Pavlov als Loge, Iliya Iliev als Alberich; Krasimir Dinev als Mime; Stefan Vladimirov als Fasolt; Petra Buchkov als Fafner und Silvana Pravcheva als Freia. Die acht Walküren waren: Milena Gyurova als Helmwige; Irina Zhekova als Ortlinde; Lyubov Metodieva als Gerhilde; Ina Petrova als Waltraute; Mariela Alexandrova als Siegrune; Tsveta Sarambelieva als Rossweiße; Margarita Damyanova als Grimgerde und Blagovesta Mekki-Tsvetkova als Schwertleite. Im „Tannhäuser“ sangen Mariana Zvetkova als Venus und Daniel Damyanov als Tannhäuser. Alle sangen sowohl in der Höhle wie im Freien ohne Verstärkung und erreichten gleichwohl eine beachtliche Resonanz! Ein reizvolles und nahezu abenteuerliches Projekt, das beim jetzigen Erfolg im zweiten Jahr in den kommenden Jahren sicher weiter geführt werden wird. Die lange Anfahrt zu „Wagner in the cave“ lohnt sich.
Für 2018 hat Plamen Kartaloff schon wieder einen neuen Spielort ausgemacht: Auf einem alten, an der Hafenmole des nahen Vidin vertäuten Donaukahn will er Puccinis „Il Tabarro“, also „Der Mantel“ aufführen, dazu „Gianni Schicchi“…
Klaus Billand